The Gentle Lurch

The Gentle Lurch

‚To lurch‘ heißt im Englischen so viel wie schlingern, torkeln oder taumeln. ‚To leave sb. in the lurch‘ bedeutet, jemanden im Stich zu lassen. Tatsächlich ist ‚Workingman’s Lurch‘ ein pessimistisches Album, das – wie der Titel nahe legt – vom Arbeiten handelt. Zur Arbeit gehen, auf Arbeit sein, Stagnation… Dass es jetzt auf’s Sterben zugeht.

Es ist das dritte Album der Dresdner Band The Gentle Lurch. Ihre Mitglieder stammen aus dem Erzgebirge und der Gegend um Chemnitz. Sie pausiert gern so lange, bis wirklich jeder ihre Existenz wieder vergessen hat. Ihr letztes Doppelalbum stammt aus dem Jahr 2009 und Americana-UK sprach damals von “Dresden‘s Answer to Wilco ‐ a sprawling, experimental epic…”

Neben der Kernbesetzung von Cornelia Mothes am Flügel und Frank Heim und Lars Hiller an diversen Saiteninstrumenten, wurden seither Ronny Wunderwald und Timo Lippold an Schlagzeug und Bass zu festen Mitgliedern. Tatsächlich spricht die Band in  Zusammenhang mit Workingman’s Lurch von einem „ehrlichen Rockalbum“, was relativ wunderlich erscheint, denn es ist eher das Gegenteil von dem, was man gemeinhin „Album aus einem Guss“ bezeichnet. Jedes Lied hat einen eigenen Willen, will seine eigene Strategie, sein eigenes Momentum entwickeln. Ludwig Bauer hat zwei erschütternd schöne Streicher-Arrangements beigetragen und an einigen Stellen erweitert sich die Mehrstimmigkeit um einen Chor aus Müttern.

Aber Bass und Schlagzeug stecken die Lieder in festere Gerüste, lassen sie konziser werden, und zumindest streckenweise auch lauter als auf vorangegangenen Alben. ‚Our Bodies Become The Ground‘ rollt wie eine Gerölllawine aus den Boxen der Anlage. Viel mehr Raum nimmt auch Cornelia Mothes ein, die dem sprech-singenden Stoizismus von Lars Hiller ein tröstendes, beinahe erlösendes Element gegenüber stellt, und dabei Pop und eine vormals ungekannte Direktheit in den Bandfokus rückt. Daneben bleibt ein Teil der alten Gentle Lurch: nah am Stillstand, unsicher tastend, alt und irgendwie morsch klingend.

The Gentle Lurch kann man eigentlich nicht als Folkband bezeichnen. Dazu sind ihre Lieder zu unverhofft, zu nah am Experiment. Sie mögen keine Wiederholungen. Ein Nachzählen ergibt gerade drei Refrains auf dem gesamten Album. Die meisten Lieder sind wie Reisen von einem Punkt A zu einem Punkt B angelegt. Andere erheben und nivellieren sich wieder wie eine Welle im Meer. Sie nutzen Elemente aus Folk, Country, Americana weil sie deren emotionale Direktheit mögen und ordnen diese neu. Manchmal so konfrontativ, wie in ‚All Things Come‘, das an einem einzelnen Orgelton von Beschwerde in Trost hinüber kippt, und dabei Sänger wie auch Harmonien wechselt. Da ist die seltsam rotierende Akkordfolge, auf der ‚Cannot‘ aufgebaut ist, oder der Groove, der den Gospel von ‚On How To Tamp Leaks‘ torpediert.

Ihre Lieder sind textreich und narrativ. Sie nehmen gern Wendungen ins Mystische wie das Ende einer Kurzgeschichte von Flannery O’Connor. Das Titelstück vergleicht – während erst nach und nach die Instrumente einsetzen – beinahe kurzgeschichtenartig den Burnout eines Angestellten mit dem pubertären Weltekel eines Teenagers und stellt dann fest: “We are passing our days / Like two snails / Slowly crawling past each other / A shared office, alright / But aren’t we supposed to be brothers?”

‚Still Life‘ ist eine Hommage an den Maler und Holzstecher Werner Wittig – semi-fiktionale Biographie und völlig fiktive Erläuterung seines Schaffens: sich in seinem Wirken immer tiefer im Abstrakten zu verstricken, den Versuch unternehmend, etwas Unsagbares zu sagen, etwas Entzogenes abzubilden. Wittig zeichnete sein Leben lang fast ausschließlich Stillleben, die über die Objekte wie Äpfel hinweg durch Fenster auf menschenlose Landschaften blicken lassen.

All das bündelt sich schließlich musikalisch wie auch textlich im letzten Lied ‚Nesting‘, das in einer Art Flucht oder Befreiung mündet, den Zustand der Trägheit abschüttelt und sich behäbig aufschwingt, um die Dinge, in die man verstrickt war, von oben herab zu betrachten: „There was something that sat on my heart like a moth / But I flew free from the sludge and the sloth.” Für Workingman’s Lurch arbeitete die Band erstmals mit einem externen Produzenten. Johannes Gerstengarbe, der das Soundengineering in Nashville erlernt hat, steht eigentlich für durchaus polierte, dem Radio zugewandte Produktionen und es war, so die Band, eine bewusste Entscheidung, die Abwegigkeit und krude Herangehensweise von Gentle Lurch mit seiner Klangästhetik zu verbinden. Die  Aufnahmen, die mit Unterbrechungen gut zwei Jahre lang gedauert haben, fanden in einer ehemaligen Schokoladenfabrik statt, die in dem (Alt-)Neubaugebiet in Dresden steht, das auch im Albumartwork abgebildet ist. Bis auf ein paar Satellitenschüsseln aus den frühen 90ern ist die Wende an diesem Ort scheinbar spurlos vorbei gegangen. Und natürlich klingt der Albumtitel auch wie ein weit entferntes Echo auf Workingman’s Dead von Grateful Dead (1970). Ist Workingman’s Dead ein Abgesang an die kulturelle Befreiung der 60er Jahre, dann ist WML ein Abgesang an ein unbelangtes und selbstbestimmtes Leben. Es beschreibt kein kulturelles Phänomen, sondern ein biographisches: Das sich Eingliedern in die Maschine Arbeitswelt – das Ächzen des Materials, die Verstockung, das Schleifen und Knarren, das Abstoßen nicht funktionaler Teile.

Sehen & Hören:

Pressestimmen:

INTRO (8/2014): „…das Americana-Album des Jahres aus Deutschland. Mindestens.“

Americana‐UK.com: “Dresden‘s Answer to Wilco ‐ a sprawling, experimental epic…”, 8 von 10 Punkten

SPEX (1/2007): „…in dieser kleinen und feinen Wüstenfolkgenrebereicherung von The Gentle Lurch ist einfach nichts Angestrengtes oder stilistisch Fragwürdiges auszumachen. Verbeulte Songs mit verstolperten Melodien und nach morschem Holzverhau klingendem Männergesang, der auch mal in ein zeitmaßverhaspelndes Duett mit einer Countryfrauenstimme trudeln darf…“